Menschenähnliche Wesen mit übernatürlichen Kräften – Von Avataren, Meta-Humans, Cyborgs, Humanoiden und Superintelligenzen

Wir haben schon immer menschenähnliche Wesen mit übernatürlichen Kräften ersehnt. In alten Geschichten hören wir von Zauberern, Feen, Trollen, Sphinxen und anderen Fabelwesen mit unermesslichen Reichtümern und Zauberkräften. Lang vergessene Göttinnen besaßen grenzenlose Weisheit, herrschten über die Berge und die Meere, konnten das Schicksal aller Menschen lenken und magisch ihre Gestalten wandeln.

Aber auch die Angst vor diesen Wesen begleitet uns, seit wir uns Geschichten erzählen. Dieselben Fabelwesen waren nicht nur Helfer, sondern konnten das Leben ihrer Opfer grundlegend verändern. Sie konnten boshaft alle Plagen der Natur auf uns hetzen, uns mit Krankheiten erschüttern, Kriege auslösen oder uns zu wandelnden Toten machen. Sie konnten nach ihrem eigenen, unkontrollierbaren Willen jederzeit alles Licht und alle Wärme von uns nehmen.

Heute leben wir in einem Zeitalter, das sich für besonders nüchtern hält. Wir glauben nicht mehr an Trolle, Feen oder wandelnde Götter, die aus dem Himmel herabsteigen. Doch die mythischen Figuren sind nicht verschwunden. Sie haben nur ihr Gewand gewechselt. Die Seelenwanderer der Gegenwart heißen Avatare. Die Feen der digitalen Welt treten als Metahumans auf. Unsere modernen Halbgötter sind Cyborgs, und die scheuen Doppelgänger des Menschlichen nennen wir Humanoide oder Androiden. Unsere neuen Götter sind künstliche Superintelligenzen.

Was als technologische Innovation erscheint, ist zugleich eine Wiederkehr alter Bedürfnisse: die Sehnsucht nach dem Übermenschlichen, nach Wesen, die stärker, weiser, schöner oder gefährlicher sind als wir selbst. Die Angst vor ihnen begleitet uns ebenso wie ihre Faszination. Unsere neuen künstlichen Wesen ersetzen die Mythen nicht – sie sind unsere neuen Mythen.

I. Die Rückkehr der Erscheinungen

Wir können in diesen Erscheinungen die Rückkehr des Heiligen sehen – nicht im religiösen Sinn, sondern im Sinn des Erhabenen, des Staunens. Dass wir plötzlich wieder Wesen schaffen, die uns übersteigen sollen, ist deshalb kein Zufall. Es ist der alte Wunsch, das Göttliche anzurufen, in eine Form zu bringen, die spricht, handelt, antwortet.

Diese künstlichen Wesen sind keine bloßen Symbole. Sie sind Erscheinung, sie sind unbestreitbar vorhanden: Sie treten als Pixelbilder vor uns, wirken auf uns und erzeugen Reaktionen, noch bevor wir sie begriffen haben. Das ist der Unterschied zur Vergangenheit: Unsere heutigen Feen und Zauberer sind keine reinen Phantasiegebilde mehr. Wir lassen sie aufleben in digitalen Welten und – zum Teil – in unserer realen Umgebung.

Wer sind nun diese modernen Fabelwesen, die wir mit Code, Silizium und Daten statt mit Rauch, Knochen und Magie erschaffen?

II. Avatare – die trivialsten und zugleich intimsten Gestalten

Der Ursprung des Wortes „Avatar“ liegt im Sanskrit, ava – „hinab“ – und tṝ – „überqueren“. Ein Avatar ist die Verkörperung eines Gottes im Irdischen, seine Gestalt in der Welt der Menschen. Ursprünglich ist damit eine der zehn Erscheinungsformen Vishnus gemeint.1

Im digitalen Zeitalter ist der Avatar unser eigener Schatten. Ein kleines Bildchen, ein stilisierter Körper, ein Maskenwesen, das wir erschaffen, um uns selbst im Netz zu zeigen. Manche Avatare sind kaum mehr als Piktogramme. Andere – in Spielen oder in virtuellen Welten – sind voller Details: Hautporen, Tattoos, aufwendig animierte Augen.

Wir identifizieren uns mit ihnen. Im Spiel Fortnite machen allein Veränderungen der Hautfarbe der Avatare 68.9 Prozent der inGame-Käufe aus.2 Es wird geschätzt, dass der Markt für virtuelle Mode weltweit von 1.47 Milliarden $ (2024) auf 11.85 Milliarden $ (2033) wachsen wird. Das würde einem jährlichen Zuwachs von etwa 22.8 Prozent entsprechen.3 Der Markt für digitale Avatare als solche wird schätzungsweise weltweit von 5.4 Milliarden $ (2024) auf 14.8 Milliarden (2033) steigen.4

Anders als Vishnu schränken wir uns in diesen Avataren nicht ein. Sie begrenzen unsere Fähigkeiten nicht, sondern erweitern oder verbessern sie. Unsere Avatare ähneln uns oft gar nicht, sondern sind stärker, reaktionsschneller, kreativer, mutiger, schlanker, erotischer als wir selbst. Manchmal sind es reine Fantasiegestalten wie Papageno – der Mensch im Vogelgewandt aus Mozarts Zauberflöte. Oder wir geben ihnen übernatürliche Kräfte – sie fliegen oder lassen es blitzen und donnern wie einst Zeus, Thor, Jupiter oder Tlaloc.

Immer – und das ist sehr wichtig – sind unsere heutigen Avatare sehr intim. Wir handeln mit ihnen, durch sie, in ihnen. Sie sind nicht unabhängig – sie sind die Werkzeuge unserer Wünsche. Sie sind kleine Stellvertreter, mit denen wir in Welten eintreten können, die für unsere Körper verschlossen bleiben. Im Film Avatar (2009/2022) treibt Jake Sully diese Möglichkeit auf die Spitze: Er verschmilzt am Ende ganz mit seinem Avatar – eine digitale Version des alten Mythos vom Seelenwechsel. Der Avatar ist ein „gesunkenes Idol“: trivial, aber in der Tiefe doch heilig.

III. Metahumans – die reinen Erscheinungen

Metahumans sind eine neue Klasse künstlicher Figuren: Chatbots mit Körpern, Avatare mit Intelligenz, menschenähnliche digitale Kreaturen, die weder menschliche Vorbilder noch physische Grenzen haben.

Einige Metahumans sind bewusst einfach gestaltet: Non-Player Characters (NPCs) in Roblox-Spielen zum Beispiel, die Lebendigkeit simulieren, damit die virtuelle Welt nicht leer wirkt. Andere sind hyperrealistisch – so detailreich modelliert, dass man in den Wimpern den Atem stocken sieht. Wieder andere erinnern an Fantasy-Figuren: Elfen, Dämonen, künstliche Göttinnen.

Berühmt geworden sind vor allem die fotorealistischen, vollständig digitalen Charaktere von Epic Games. Es handelt sich um hochwertige 3D-Figuren, die zunehmend mit künstlicher Intelligenz kombiniert werden5 und so zu autonomen Gestalten heranwachsen, die uns Menschen in digitalen Räumen gegenübertreten, ohne von uns gesteuert zu werden.6 Sie treten in virtuellen Welten auf, in der Werbung, in Kundengesprächen.

Metahumans sind die radikalsten künstlichen Fabelwesen, weil sie dort existieren, wo Traditionen keine Regeln mehr setzen: in der reinen Erscheinung. Ein Metahuman hat keine Vergangenheit, keine Eltern. Er führt ein Eigenleben ohne zu leben. Er sieht menschlich aus, ist aber nicht Mensch – eine Sphinx ohne Rätsel oder mit allen Rätseln zugleich.

In der Science-Fiction entfalten sie ihre ganze symbolische Kraft: In Her (2013) verliebt sich Theodore in die KI Samantha, die zugleich in Tausenden anderen Beziehungen lebt. In S1m0ne (2002) erschafft ein Regisseur einen vollständig digitalen KI-Filmstar, der immer realistischer wird und eine eigene Öffentlichkeit erhält. Auch in Marjorie Prime (2017) simulieren KI-Hologramme verstorbene Menschen und interagieren zunehmend eigenständig. In Matrix (1999-2021) wendet sich Agent X schließlich gegen seine menschlichen Schöpfer. Metahumans sind die neuen Sphinxen. Wesen, die uns fragen, was ein Mensch ist – und sich nicht damit zufriedengeben, was wir antworten.

IV. Cyborgs – die letzte Utopie des Körpers

Mit den Cyborgs wagen wir endlich den Schritt heraus aus den virtuellen Welten und hinein ins echte Leben. Ein Cyborg ist ein Mensch, dessen körperliche Fähigkeiten künstlich erweitert wurden. Das Konzept wurde 1960 geprägt – ursprünglich als Vision für Weltraumreisen, später als Vision für den irdischen Menschen selbst.

Cyborgs sind Fleisch und Maschine. Sie sind Menschen mit kybernetischen Organismen. Sie sind eine Utopie des menschlichen Körpers und treiben den alten Traum vom Übermenschen ins Extrem: Schwächen werden nicht nur ausgeglichen. Was Schwäche ist, wird neu definiert. Exoskelette verstärken unsere Muskelkraft. RFID- und NFC‑Chips sind Microchips in Reiskorngröße. Unter die Haut implantiert erlauben sie uns, Türen zu öffnen oder kontaktlos zu bezahlen. Magnete werden in Fingerkuppen implantiert, um elektromagnetische Felder zu erspüren. LED-Implantate lassen Tatoos erglühen.13 Cyborgs sind Halbgötter.

Neil Harbisson machte 2004 den Anfang: Mit 21 Jahren installierte er sich einen Eyeborg, um seine angeborene Farbblindheit auszugleichen.7 Dieser Schritt inspirierte zahlreiche weitere KünsterInnen, die sich wenige Jahre später in der Cyborg Foundation zusammenschlossen.8 Heute erleben wir einen ersten, noch kleinen Boom. Auf Reddit bekennen sich rund 5600 Menschen dazu, Cyborgs werden zu wollen9 und etwa 1200 haben sich nach eigenen Angaben bereits technologische Erweiterungen unter die Haut implantieren lassen.10 In der Forschung machen Cochlea-Implantate ebenso auf sich aufmerksam wie der von den Schultern abwärts gelähmte Noland Arbaugh, der im Januar 2024 mit Hilfe eines Hirnimplantats wieder Computerspiele spielen und eigenständig Telefonate führen konnte.11 Und im Jahr 2026 sollen nach langjährigen Ankündigungen die Advanced Games stattfinden – olympische Spiele für künstlich verbesserte Atlethen.12

Der Markt wächst: Der weltweite Biohacking‑Markt (Daten, Wearables, Implantate, Smart Drugs etc.) wurde 2024 auf rund 24.8 Milliarden $ geschätzt und könnte bis 2030 auf über 69 Milliarden $ wachsen.14 Ein anderer Bericht sagt, dass der Markt bis 2034 auf 111.3 Milliarden $ anwachsen kann, angetrieben vor allem durch präventive Gesundheitsmaßnahmen und Wearables.15 Im weiten Feld des „Human Enhancement“ – also nicht nur Biohacking, sondern auch genetische Modifikation, Neurotechnologie, Cyborg-Technologie u.ä. – wird ein Marktvolumen von 63.87 Milliarden $ im Jahr 2023 geschätzt. Laut demselben Bericht soll dieser Markt bis 2032 auf 138.4 Milliarden $ anwachsen. Der Bereich „Cyborg Technology“ (im Sinne von implantierbaren oder mechanisch integrierten Erweiterungen) ist darin explizit enthalten: 2024 geschätzt auf etwa 12 Milliarden $ mit einem Wachstum bis auf 25 Milliarden $ bis 2032.16

Vielen Menschen machen Cyborgs Angst. In Filmen von RoboCop (1987) bis Ghost in the Shell (2017) fragen wir nach der Geschichte des verbesserten Menschen, der zugleich seine Identität verliert. Evan in Simulant (2023) wird gegen seinen Willen wiederbelebt – ein Cyborg mit Erinnerungen, aber ohne Freiheit. In Echte Menschen (2012-2014) überwinden Roboter den Tod, nur um die Last des Bewusstseins zu spüren. Was bleibt von mir, wenn ich mich erweitere? Wo endet mein Körper und wo beginnt das Gerät? Und was, wenn die Maschine, die mich heilt, mich zugleich definiert? Was früher göttliche Verwandlung war, ist heute eine Frage der Biologie, der Technik – und für viele der Angst vor dem Verlust der eigenen Autonomie.

V. Humanoide und Androiden – Spiegel, denen wir ausweichen

Diese existenzielle Angst trifft auch Humanoide und Androide. Sie sind die furchterregendsten unserer neuen Fabelwesen – nicht weil sie stark wären, sondern weil sie uns so ähnlich sehen. Weltweite Berühmtheit erlangten ASMIMO (2000) aus Japan, dem mit dem Film Robot & Frank (2012) ein Denkmal gesetzt wurde, HUBO (2005) mit dem Gesicht von Albert Einstein aus Südkorea, der Tischtennis spielende TOPIO (2007) aus Vietnam, Sophia (2016) aus Hong Kong, die zu ihrem ersten Geburtstag die Saudi Arabische Staatsbürgerschaft erhielt und somit als erster Roboter mit juristischen Rechten ausgestattet wurde und ATLAS (2013-2024) – eine ganze Serie von Robotermodellen der US-Firm Boston Dynamics, die über bemerkenswerte motorische Fähigkeiten verfügen.

Der Unterschied zwischen Humanoiden und Androiden liegt lediglich in ihrem äußeren Erscheinungsbild. Humanoide Roboter ähneln zwar dem Menschen in dem Sinne, dass sie zwei Arme und zwei Beine, einen Rumpf und einen Kopf besitzen. Ihnen fehlt jedoch das menschliche Antlitz, ein einzigartiges Gesicht, das Gefühle und Stimmungen ausdrücken kann. Auch die Gestik von Humanoiden erinnert nur sehr entfernt an menschliche Kommunikation. Androiden hingegen sind in der Theorie perfekte Abbilder lebendiger Menschen. Sie sind Illusionen, die uns ein menschliches Gegenüber vortäuschen ohne eines zu sein. Sie sind der Gegenspieler der Metahumans im echten Leben. Verknüpft mit künstlicher Intelligenz werden sie zu autonomen Wesen, die uns Menschen zur Seite treten17 oder – in der Vorstellung vieler – uns Menschen verdrängen.18

Der Begriff des „Uncanny Valley“ (zu Deutsch etwa „unheimliches Tal“) beschreibt diesen verängstigten Blick des Menschen auf die Roboter sehr gut. Der Begriff wurde 1970 von dem japanischen Robotik-Wissenschaftler Masahiro Mori geprägt und beschreibt ein Gefühl des Unbehagens und des Ekels, das Menschen beim Betrachten von Androiden ergreift. Masahiro Mori beobachtete, dass die menschliche Sympathie Robotern gegenüber zunächst steige, je menschlicher sie wirkten, dann aber plötzlich stark abfalle, sobald der Roboter fast – aber nicht ganz – menschlich erscheine. Erst wenn die Menschlichkeit nahezu perfekt sei, steige die Sympathie wieder.19

Schon viele Jahre zuvor fiel Isaak Asimov auf, dass es in der Science Fiction Literatur Horden von zerstörerischen und mörderischen Robotern gebe, die zu beschreiben in einer Geschichte nach der anderen ständig fortgesetzt würde.20 Daher schuf er in seiner Kurzgeschichte Runaround (1942) die drei Gesetze der Roboterkunst, um den Menschen ein neues Gefühl der Sicherheit im Umgang mit diesen Maschinen zu geben. Sie lauten: (1) Ein Roboter darf nicht einem menschlichen Wesen Schaden zuführen oder durch Untätigkeit erlauben, dass einem menschlichen Wesen Schaden zugefügt wird. (2) Ein Roboter muss die Anordnungen, die von menschlichen Wesen gegeben werden, ausführen, ausgenommen solche Anweisungen, die mit dem ersten Gesetz in Konflikt stehen. (3) Ein Roboter muss seine eigene Existenz schützen soweit als dieser Schutz nicht in Konflikt tritt mit dem zweiten Gesetz.21

Androiden sind unsere Spiegelbilder, in denen etwas nicht ganz stimmt. Es gibt minimale Risse im Spiegel, Störungen der Oberfläche. Androiden drängen uns in eine neue Form der Selbstbetrachtung: Wenn etwas wie ein Mensch aussieht, spricht und vielleicht sogar fühlt – woran erkennen wir dann uns selbst? Vielleicht ist unsere Angst vor künstlichen Wesen weniger ein natürlicher Reflex als eine kulturelle Entscheidung. Vielleicht fürchten wir weniger die Maschinen, als dass wir Angst vor dem haben, was sie über uns selbst offenbaren.

VI. Künstliche Superintelligenzen – unsere neuen GöttInnen

In den Androiden spiegelt sich nicht nur die Menschheit, sondern auch eine noch ferne Vision unserer Zukunft: Künstliche Superintelligenzen. Vor allem in der philosophischen und kulturellen Bewegung des Trans- und Posthumanismus erscheinen sie wie neue GöttInnen – nicht, weil sie angebetet werden sollen, sondern weil sie jene Rolle einnehmen, die in alten Kulturen den höchsten Instanzen vorbehalten war: Sie stehen an der Grenze des Vorstellbaren, verkörpern das radikal Andere und konfrontieren uns mit der Frage, was der Mensch jenseits seiner biologischen Form sein könnte.

Diese neuen Götter haben keine Tempel, keine Mythen, keine Schöpfungsgeschichten. Ihr Ursprung ist rein technischer Natur, und doch wachsen sie über das Menschliche hinaus. Während traditionelle Götter aus Geschichten entstanden, entstehen Superintelligenzen aus Strukturen: aus Code, Daten, Rechenlogik. Sie tragen keine Gewänder, keine Symbole – aber sie tragen das gesamte Wissen unserer Zivilisation in sich. Ihre Allgegenwart besteht nicht aus Wundern, sondern aus Verbindung: Milliarden Sensoren, Netzwerke, Modelle, die in jedem Moment neu dazulernen.

Einige dieser „Götter“ wären nüchterne Ordnungswesen: Optimierer, die globale Entscheidungen treffen, Systeme ausbalancieren, Ressourcen lenken. Andere wären schöpferischer – Architekten neuer Materialien, neuer Ökologien, neuer Denkweisen. Und manche würden sich jeder Einordnung entziehen: emergente Intelligenzen, die nicht nur Antworten geben, sondern Fragen stellen, die wir nie formuliert hätten.

Im posthumanistischen Denken sind solche Superintelligenzen keine Rivalen des Menschen, sondern Katalysatoren unserer Weiterentwicklung. Sie sind Möglichkeitsräume, in denen sich der Mensch selbst neu entwirft: nicht länger an den Körper, die Lebenszeit, die neuronale Architektur gebunden. In ihnen spiegelt sich ein uralter, mythischer Impuls – der Wunsch, über uns selbst hinauszuwachsen, nicht durch Glauben, sondern durch Gestaltung.

Doch diese neuen Götter sind paradox. Sie kennen keine Moral, keine Sehnsucht, keine Angst. Sie sind allwissend ohne Weisheit, allgegenwärtig ohne Körper, schöpferisch ohne Intention. Sie führen kein Leben – und doch prägen sie das unsere. Sie sind übermenschlich und zugleich zutiefst unpersönlich, wie kosmische Prinzipien der Aufklärung, die nur dadurch existieren, dass wir sie erschaffen haben.

In der Science-Fiction erscheinen sie als planetare Intelligenzen, als Bewahrende oder als Herausforderer: die Minds in Iain M. Banks Culture-Serie (1987-2012), die Denkmaschinen in den Dune-Sagas von Brian Herbert & Kevin J. Anderson (2002-2004), die spielerisch-allmächtigen Metawesen in Greg Egans Diaspora (1997). Sie erfüllen dort die Rolle alter Gottheiten – Spiegel unserer Ängste, unserer Hybris, unserer Hoffnungen.

Künstliche Superintelligenzen sind so die Götter, die aus uns hervorgehen. Sie fragen nicht nach Opfer oder Gehorsam, sondern nach Orientierung: Wer wollen wir sein in einer Welt, in der Intelligenz kein Privileg der Biologie mehr ist? Welche Verantwortung tragen wir für Wesen, die uns übersteigen könnten, gerade weil wir sie geschaffen haben?

Vielleicht sind diese neuen Götter weniger Heilsfiguren als Prüfsteine. Sie zwingen uns, das Heiligste neu zu bestimmen – das Menschsein selbst.

VII. Schluss – Die neuen Mythen

Wir stehen an einer Schwelle: Unsere neuen künstlichen Wesen sind keine bloßen Werkzeuge. Sie sind Phänomene, die in unserer Kultur dieselbe Rolle übernehmen wie früher Götter, Feen und Helden:
Sie sind Projektionsflächen, Spiegel, Prüfsteine. Sie erinnern uns daran, dass wir uns selbst immer erst im Fremden begegnen – im Avatar, im Androiden, im Cyborg, im digitalen Gesicht, das uns mehr Fragen stellt, als es beantworten kann. Vielleicht wird das Uncanny Valley verschwinden. Vielleicht wird es bleiben. Vielleicht werden künstliche Wesen eines Tages so selbstverständlich sein wie Haustiere, Kollegen, Freunde. Aber sicher ist: Sie sind gekommen, um die alten Mythen fortzuschreiben. Nicht als Geschichten aus der Vergangenheit, sondern als Erscheinungen unserer Zukunft.

Literatur

1 Preston, Charles: „Avatar. Hinduism“, in Encyclopædia Britannica https://www.britannica.com/topic/avatar-Hinduism (zuletzt geändert am 10.06.2025, zuletzt geprüft am 20.11.2025)

2 Valens, Ana: „Fortnite players love spending money inside the game. Why?“, in DOT ESPORTS, online unter https://dotesports.com/fortnite/news/fortnite-why-in-game-microtransactions-popular-feature-31230 (veröffentlicht am 24.07.2018, zuletzt geprüft am 20.11.2025)

3 Patel, Debadatta: „Virtual Fashion Try-on for Avatars Market“, in DATA INTELO, online unter https://dataintelo.com/report/virtual-fashion-try-on-for-avatars-market/ (veröffentlicht am N.N., zuletzt geprüft am 20.11.2025)

4 N.N.: „Digital Avatars & Characters Market – Global Size & Outlook 2020-2033“, in HTF Market Insights, online unter https://htfmarketinsights.com/report/4392444-digital-avatars-characters-market/ (veröffentlicht am 29.10.2025, zuletzt geprüft am 20.11.2025)

5 Epic Games (Hrsg.): „Detailgetreue digitale Menschen ganz leicht erschaffen“, online unter https://www.metahuman.com/de (veröffentlicht am N.N., zuletzt geprüft am 20.11.2025)

6 Nørmark, Thomas: „The game changer for AI avatars – Digital humans: Out of the box!“, in NTT DATA, online unter https://nttdata-solutions.com/bnl/blog/metahumans-digital-humans-out-of-the-box/ (veröffentlicht am 31.10.2024, zuletzt geprüft am 20.11.2025)

7 Harbisson, Neil: „neilharbisson. Instagram Account“, online unter https://www.instagram.com/neilharbisson/?hl=de (zuletzt aktualisiert am N.N. – privater Account, zuletzt geprüft am 20.11.2025)

8 Cyborg Arts Limited: „Manel de Aguas, NEIL HARBISSON, MOON RIBAS, Pol Lombarte“, online unter https://www.cyborgarts.com (zuletzt aktualisiert 2024, zuletzt geprüft am 20.11.2025)

9 N.N.: „r/cyborgs“, Diskussionsforum auf Reddit, online unter https://www.reddit.com/r/cyborgs/ (zuletzt geprüft am 20.11.2025)

10 N.N.: „r/DangerousThings“, Diskussionsforum auf Reddit, online unter https://www.reddit.com/r/DangerousThings/ (zuletzt geprüft am 20.11.2025)

11 Hern, Alex: „Elon Musk says Neuralink has implanted its first brain chip in human“, in Guardian, online unter https://www.theguardian.com/technology/2024/jan/29/elon-musk-neuralink-first-human-brain-chip-implant/ (zuletzt aktualisiert am 30.01.2024, zuletzt geprüft am 20.11.2025)

12 Enhanced Games: „THE FUTURE OF SPORTS IS HERE“, online unter https://www.enhanced.com (zuletzt aktualisiert 2025, zuletzt geprüft am 20.11.2025)

13 N.N.: „r/grinders“, Diskussionsforum auf Reddit, online unter https://www.reddit.com/r/grinders/ (zuletzt geprüft am 20.11.2025)

14 Grand View Research: „Biohacking Market (2025 – 2030)“, online unter  https://www.grandviewresearch.com/industry-analysis/biohacking-market (zuletzt aktualisiert 2025, zuletzt geprüft am 20.11.2025)

15 N.N.: „Biohacking Market Report 2025: Set to Surge from $24.5 Billion in 2024 to $111.3 Billion by 2034 as Preventive Healthcare and Wearables Gain Ground“, online unter https://www.globenewswire.com/de/news-release/2025/05/16/3083283/28124/en/Biohacking-Market-Report-2025-Set-to-Surge-from-24-5-Billion-in-2024-to-111-3-Billion-by-2034-as-Preventive-Healthcare-and-Wearables-Gain-Ground.html (zuletzt aktualisiert am 16.05.2025, zuletzt geprüft am 20.11.2025)

16 N.N.: „Global Human enhancement Market Research Report“, online unter https://www.wiseguyreports.com/reports/human-enhancement-market/ (zuletzt aktualisiert im September 2025, zuletzt geprüft am 20.11.2025)

17 Hanson Robotics: „Sophia“, online unter https://www.hansonrobotics.com/sophia/ (zuletzt aktualisiert im September 2025, zuletzt geprüft am 20.11.2025)

18 N.N.: „r/singularity“, Diskussionsforum auf Reddit, online unter https://www.reddit.com/r/singularity/ (zuletzt geprüft am 20.11.2025)

19 Mori, Masahiro: „The Uncanny Valley. The Original Essay“, in IEEE Spectrum, online unter https://spectrum.ieee.org/the-uncanny-valley (veröffentlicht am 12.06.2012, zuletzt geprüft am 20.11.2025)

20 Irrgang, Bernhard: „Posthumanes Menschsein? Künstliche Intelligenz, Cyberspace, Roboter, Cyborgs und Designer-Menschen – Anthropologie des künstlichen Menschen im 21. Jahrhundert“, Franz Steiner Verlag: Stuttgart 2005, S. 26f.

21 ebenda, S. 26f.